Airin-chiku: Ōsakas Viertel der Tagelöhner und Obdachlosen

Matthias Reich
Matthias Reich

Jede Gesellschaft hat einen Rand und Menschen, die durch das soziale oder gesellschaftliche Gitter fallen. Da macht Japan keine Ausnahme. Airin-chiku in Ōsaka ist ein Viertel der Tagelöhner und Obdachlosen. Wie sieht die Situation dort aus?

Straße und Häuser in Airin-chiku bei Nacht

Der japanische Begriff doya-gai ドヤ街 bezeichnet eine Straße (gai), in der sich billigste, meist illegale Unterkünfte (doya) aneinanderreihen. Lange Zeit waren folgende drei solcher Straßen in Japan bekannt: Kotobuki in Yokohama, San’ya in Tōkyō und Kamagasaki im Nishinari-Distrikt in Ōsaka. Von den ersten beiden ist nicht viel übrig geblieben – hier hat die Gentrifizierung begonnen und die Bewohner zunehmend verdrängt. Übrig geblieben ist damit nur Kamagasaki in Ōsaka, auch bekannt unter dem Namen Airin-chiku (chiku = Gebiet). Und besagtes Viertel liegt mitten im Herzen von Ōsaka, direkt südlich des beliebten Touristenviertels Shinsekai, auch Ebisu-chō genannt.

Airin-chiku: eine Parallelwelt mitten in Ōsaka

Was ist anders in Airin? In dem Viertel leben viele Menschen außerhalb des Systems, ohne festen Wohnsitz, ohne festes Arbeitsverhältnis, meist ohne Familie und nicht selten ohne jegliche Anmeldung, Krankenversicherung, Bankkonto und dergleichen. Tagelöhner, die in eingangs erwähnten doya für gut 5 Euro übernachten und sich am yoseba 寄せ場, dem illegalen Arbeitsmarkt, für umgerechnet 80 Euro pro Tag auf Baustellen verdingen. Eine Parallelwelt.

geschlossene Läden einer Einkaufspassage

Ein Ort der Zuflucht für Untergetauchte

In Japan gelten über 80.000 Menschen als vermisst. Der Großteil aus gesundheitlichen Gründen, doch rund 15.000 Menschen verabschieden sich einfach so aus familiären Gründen und fast 10.000 aus beruflichen Gründen (Polizeistatistik von 2018). Hinzu kommen noch tausende Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Neigung fliehen oder sich so vor dem Zugriff staatlicher Gewalt nach vollzogener Straftat entziehen wollen.

Unentdeckt bleiben und einen Neustart hinlegen – beides ist in Japan äußerst schwierig. Arbeit, Wohnung, Bankkonto – für all dies und mehr muss man sich bis ins kleinste Detail ausweisen. Hat man kein Bankkonto, bekommt man keine Wohnung und keine Arbeit. Hat man keine Wohnung, gibt es weder Konto noch Arbeit. Und so weiter. Man darf davon ausgehen, dass ein nicht geringer Prozentsatz der Untergetauchten im besagten Airin gelandet ist.

Natürlich geht es dort vielen nicht besonders gut – schließlich haben Tagelöhner und/oder Obdachlose weder Anspruch auf Krankenversicherung noch Rente. Aus diesem Grund kümmern sich einige NPOs vor Ort um die besonders Bedürftigen. Der Staat hält sich da mit seiner Einmischung auffallend zurück – gut zu sehen an der örtlichen Polizeiwache, eine kleine Festung, wie man sie so selten in Japan sieht. Das hat seine Gründe. Seit den 1960ern zählte man insgesamt 24 mehr oder weniger große “Unruhen” in dem Viertel – zuletzt 2008, als hunderte aufgebrachte Demonstranten eben jenes Polizeirevier belagerten und 18 Beamte verletzten. Der Aufruhr hielt vier Tage lang an. Die Menschen dort machen dabei immer wieder deutlich, dass sie in Ruhe gelassen werden wollen, und damit sind durchaus auch Touristen gemeint. Sicher, man kann in Airin-chiku herumspazieren, aber hier besteht durchaus die reelle Möglichkeit, mindestens unfreundlich angesehen zu werden. Das Viertel ist also für japanische Verhältnisse etwas unsicher – aber immer noch wesentlich sicherer als so manches Stadtviertel in Deutschland.

Blick durch ein Fenster einer Go-Spielhalle in Japan

Wie lange wird Airin-chiku wohl so bleiben?

Wie lange das Viertel wohl so bleiben wird? Das ist schwer zu sagen. Der Wandel im Tōkyōter San’ya-Viertel kam schleichend, aber unaufhaltsam. Nun wird dort munter gentrifiziert. Airin ist davon noch weit entfernt. Der Ruf des Viertels ist ungebrochen schlecht, weshalb niemand dort investieren möchte. Doch im Jahr 2025 richtet Ōsaka – zum zweiten Mal nach 1970 – die Weltausstellung EXPO aus, und das könnte die Stadt- und Präfekturverwaltung zum Anlass nehmen, in Airin “aufzuräumen”. Ohne Widerstand wird das jedoch kaum möglich sein.

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